Autor: Joachim Baur
In der Wissenschaft sind Glossare und verwandte Wörterlisten seit je bedeutende Mittel der fachlichen Verständigung. Sie definieren zentrale Begriffe und damit die Terminologie einer Fachsprache. Indem sie ein bestimmtes Verständnis und den richtigen Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken festhalten, definieren sie zugleich die Konturen und Grenzen des Faches selbst. Unterschiedliche Disziplinen prägen dabei unterschiedliche Formen und Bezeichnungen aus. Was hier üblich und eindeutig sein mag, ist dort womöglich anders gefasst.
Glossare tragen somit der Erkenntnis Rechnung, dass Begriffe nicht selbst-verständlich sind, dass sie Verschiedenes zum Ausdruck bringen können und kontextabhängig ist, was sie bedeuten. Glossare sind nötig, weil Sprache sich wandelt, und sie zeigen zugleich, dass Sprache sich wandelt, dass geläufige Begriffe neue Bedeutungen annehmen können und neue entstehen, die erklärungsbedürftig sind, bevor sie geläufig werden.
„Glossa“ heißt Zunge. Das griechische Wort glṓssa (γλῶσσα) bedeutet auch „Sprache“. Glossare sammeln – auch dies eine Bedeutungsschicht von glṓssa – „eigentümliche Ausdrucksweisen, erklärungsbedürftige Wörter“
(Quelle: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache)
Die Geschichte der Gattung reicht zurück bis in die Antike. Als Hilfsmittel für das Studium der alten Schriften erstellten Glossographen regelmäßig Listen ungebräuchlicher oder fremdsprachiger Wörter, die sie in eigenen kleinen Texten, so genannten Glossen, erläuterten. Diese Praxis, aus wichtigen Texten schwierige Wörter herauszuziehen, zu bündeln und pointiert zu erklären, verbreitete und verzweigte sich im Laufe der Zeit. Mit der Übersetzung von Wörtern aus anderen Sprachen bilden Glossare eine Vorform heutiger Wörterbücher, mit der Ausdeutung von Wortgeschichten und der sachlichen Erläuterung komplizierter Begriffe verbinden sie sich mit dem Genre der Enzyklopädie.
Heute sehen wir eine wahre Konjunktur von Glossaren, die weit über fachwissenschaftliche Zirkel hinausgeht: Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft bietet ein „Glossar zur Erklärung wesentlicher Begriffe der Digitalisierung“. Das Netzwerk Stiftungen und Bildung hält in seinem „Wissencenter“ ein Glossar von „Berufliche Erstausbildung“ bis „Zivilgesellschaft“ bereit. Das Glossar der Neuen deutschen Medienmacher*innen stellt Erläuterungen und alternative Begriffe für die journalistische Berichterstattung in der Einwanderungsgesellschaft zur Verfügung, während das „Inventar der Migrationsbegriffe“ dezidiert umkämpfte Begriffe der Migration versammelt. Das „Glossar Urbane Praxis“ beleuchtet über sechzig Begriffe zu Veränderungsprozessen und neuen Formen des Zusammenlebens in der Stadt.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Auffällig ist, dass gerade im Kontext von Kunst, Kultur und Kultureller Teilhabe eine regelrechte Glossarophilie, wenn nicht -manie, zu verzeichnen ist: Diversity Arts Culture, das Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung, stellt in einem Wörterbuch zahlreiche Begriffe von „Ableismus“ bis „Trans*“ vor. Das Theater-, Tanz- und Performancefestival FAVORITEN bietet ein vielstimmiges, explizit unordentliches „Glossar des (Ver-)Lernens“ an. Die documenta fifteen stellte ebenso eine Liste ihrer Konzeptbegriffe auf, wie im selben Jahr 2022 die 12. Berlin Biennale for Contemporary Art mit einem „Messy Glossary“ als Teil ihres Vermittlungsprogramms.
Nicht lange zuvor, im Frühjahr 2020, eröffnete die Ausstellung „Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik“ im ZKM – Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe mit einem Glossar, bei dem das „Reden in Zungen“ – „Glossolalia“ – Titel und Programm wurde. Emphatisch formulierten die Autor*innen Bettina Korintenberg, Rachel Libeskind, Robert Preusse und Stefanie Rau:
„Glossolalia beschreibt den Akt des Sprechens in einer unbekannten oder – wie in unserem Fall – einer noch nicht völlig greifbaren Sprache. Die Begriffe, die nötig sind, um die Wirklichkeiten einer Verortung und die folgenden Verwicklungen und Beziehungen zu artikulieren, müssen noch definiert und formuliert werden.“
Dabei handelt es sich keinesfalls allein um ein deutsches Phänomen, wie nur exemplarisch die von vier niederländischen Museen getragene Publikation „Words Matter. An Unfinished Guide to Word Choices in the Cultural Sector“ oder das „glossary of common knowledge“ einer Gruppe europäischer Kunsthäuser zeigen.
Woher rührt die skizzierte Konjunktur der Glossare? Was sind ihre Gründe? Gewiss wären in jedem einzelnen Fall die Kontexte, Motive und Ausrichtungen genau zu beleuchten, nicht zuletzt weil sich allein bei den genannten merkliche Unterschiede zeigen: Während die einen sich im ursprünglichen Sinn als Hilfsmittel verstehen, um verbreitete Begriffe verständlicher zu machen, legen andere den Akzent auf die Einführung und Popularisierung neuer.
Wieder andere, insbesondere im Kunstfeld, arbeiten sich am Genre des Glossars selbst ab und setzen seinem eingeschriebenen Anspruch der Definition und Klärung die produktive Verunsicherung oder ein kritisches Ver-Lernen entgegen.
Gemeinsam sind ihnen indes einige Hintergründe, die als Triebfedern der Konjunktur gelten dürfen:
Sicher geht es auch eine Nummer kleiner. Die Popularität von Glossaren lässt sich auch pragmatischer begründen: In vielen Kontexten sind Glossare attraktiv, weil sie handhabbar sind. Mit den meist kurzen Stücken lässt sich gut beginnen und dann sehen, wie es läuft, beim Schreiben wie beim Lesen. Glossare sind erweiterbar und ihre Einträge lassen sich meist gut verknüpfen. Sie fügen sich damit nicht zuletzt nahtlos in die Praxis digitaler Publikationen.
Glossare sind auch vergleichsweise offen für partizipatives Schreiben; sie lassen es leichter als andere Genres zu, eine größere Zahl von Autor*innen einzubinden. Glossare wirken schließlich nach innen wie außen; sie sind für Projekte ein Mittel der Selbstverständigung wie Signal und Service für die Öffentlichkeit.
Glossare bedienen so reflexive und konsumistische Bedürfnisse: Ihr Charme des Kaleidoskopischen stellt sich schon in der Form gegen festgefügte Narrative (zumindest an der Oberfläche).
Einträge im Glossar versprechen schnelle Orientierung und Erkenntnisgewinne („Lesezeit: 3 Minuten“) in einer rastlosen, auf Verwertung getrimmten Zeit.
Ich schlage dreierlei vor.
Zum einen können wir uns schlicht über die Fülle freuen und uns lesend und diskutierend den je präsentierten, nie neutralen, oft klar positionierten, teils widerstreitenden und umkämpften Stand der kursierenden Begriffe aneignen.
Zum zweiten rege ich an, Glossare als Material für „eine gramscianische Art (…) über gegenwärtige Sprachverhältnisse nachzudenken“ (Khakpour & Strasser 2023: 268) in den Blick zu nehmen.
Denn: „Sobald von Sprache die Rede ist […] kommt eine Vielzahl weiterer Themen zum Vorschein, deren gemeinsamer Nenner in der Funktion der Reorganisation der Hegemonie verstanden werden kann. Fragen des ökonomischen Zusammenhangs, der Bildung, der Kultur und Fragen politisch-strategischer Art werden mitverhandelt, sobald nach der Bedeutung von Sprache gefragt wird.“ (Khakpour & Strasser 2023: 271). Vermittlung, Kritik und Neubestimmung von Sprache und Begriffen, wie sie Glossare leisten, zielen dabei stets auf den Alltagsverstand, der als Weltauffassung für die Bildung von gesellschaftlichem Konsens und Hegemonie von zentraler Bedeutung ist.
So kann mit Gramsci „der Blick dafür geschärft werden, wie durch Sprache hierarchisierende Unterscheidungen von Sprecher:innen und daraus resultierende besser- oder Schlechterstellungen legitimiert werden.“ (Khakpour & Strasser 2023: 279). Zugleich zeigt sie sich als mögliches Terrain der Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, von Allianzen und Solidarisierung.
Zum dritten plädiere ich, bei aller politischen Relevanz und Brisanz, für einen spielerischen Umgang mit dem Sammeln und Streuen von Begriffen, beim Machen, Lesen, Nutzen.
Für Glossare, die nicht im Einhegen und Festschreiben aufgehen, sondern zur Auseinandersetzung provozieren, auch zur Auseinandersetzung mit dem präsentierten Kanon selbst.
Für Glossare, die zum Überdenken von Begriffen provozieren und zum Verwenden von neuen.
Für Glossare als Einladung zur Reflexion und Treibstoff gesellschaftlicher Veränderung.
Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer, Laura Stielike (Hg. 2023): Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar, Bielefeld: transcript (letzter Zugriff am 01.09.2023).
Pierre Bourdieu (1990): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: new academic press.
Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (letzter Zugriff am 29.08.2023).
Antonio Gramsci (2012): Gefängnishefte. Gesamtausgabe in 10 Bänden. Hamburg: Argument.
Natascha Khakpour, Magdalena Strasser (2023): Das (Ver-)Sprechen des Hegemonialen. Sprache(n), Herrschaft und Kritik des Alltagsverstands. In: María do Mar Castro Varela, Natascha Khakpour, Jan Niggemann (Hg.): Hegemonie bilden. Pädagogische Anschlüsse an Antonio Gramsci. Beltz Juventa: 267–281.
Hier finden Sie eine Auswahl von „Bindestrich-Glossaren“: Begriffssammlungen und Erklärungen, die sich meist auf einen konkreten Bereich oder Kontext beziehen, etwa auf Bildungsthemen, auf Armut oder auf Diskriminierungen.
Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle Bildung/Kunst (diskrit): Glossar (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Diversity Arts Culture: Wörterbuch (letzter Zugriff: 01.09.2023).
i-PÄD Kompetenzstelle intersektionale Pädagogik: Glossar (letzter Zugriff: 01.09.2023).
LVR-Landesjugendamt Rheinland: Glossar zum armutssensiblen Sprachgebrauch (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Netzwerk Stiftungen und Bildung: Glossar (letzter Zugriff: 01.09.2023).
NdM-Glossar: Wörterverzeichnis der Neuen deutsche Medienmacher*innen (NdM) mit Formulierungshilfen, Erläuterungen und alternativen Begriffen für die Berichterstattung in der → Einwanderungsgesellschaft (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Servicestelle Inklusion im Kulturbereich: Glossar (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Glossar Diversity in der Lehre der Universität Freiburg (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Glossar des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e.V. (IDA e.V.) (letzter Zugriff: 01.09.2023).
KuLO – Kunst- und Kultureinrichtungen als Lernende Organisationen: Glossar (letzter Zugriff: 01.09.2023).
Sie könnten noch ein Glossar mehr vertragen?
Ein ganz kleines haben wir noch: Zur besseren Orientierung auf unserer Webseite.
Nächstes Thema
Mehr davon? Entdecken Sie hier ein weiteres Themendossier: Inklusive Kunst- und Kulturarbeit